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Florence Nightingale

Begründerin der modernen Krankenpflege

Ein Beitrag von Margit Herfarth

Florence Nightingale Copyright: Wikimedia Commons/H. Lenthall

Lebensdaten:

1820 - 1910


Beziehungen

Den ungewöhnlichen Vornamen erhielt Florence Nightingale in Erinnerung an ihren Geburtsort: als zweite Tochter von Fanny und William Nightingale kam sie während ihrer zweijährigen Hochzeitsreise am 12. Mai 1820 in Florenz zur Welt. Leisten konnten sich die Eltern diesen langen Auslandsaufenthalt, weil sie beide wohlhabenden, gesellschaftlich hochstehenden Familien entstammten. Im Winter 1820 kehrten sie mit ihren kleinen Töchtern nach Großbritannien zurück und ließen sich zunächst in Lea Hurst in der Grafschaft Derbyshire nieder; einige Jahre später erwarb William Nightingale zusätzlich den Landsitz Embley Park in Hampshire. Die Sommermonate verbrachte die Familie in Lea Hurst, die Wintermonate in Embley Park und jeweils einige Wochen im Jahr in London, um die Ballsaison genießen zu können.

Florence und ihre ältere Schwester Parthenope wurden zu Hause unterrichtet, teilweise durch Hauslehrerinnen, aber auch durch die Eltern. Die Mutter Fanny unterrichte ihre Töchter in Religion, der Vater übernahm den Unterricht in weiteren Fächern. Schon früh erwies sich Florence als intelligentes, wissbegieriges Kind –  ab ihrem 11. Lebensjahr erhielt sie durch den Vater eine Bildung, die in nichts hinter dem zurückstand, was einem Sohn zugute gekommen wäre. Parthenope, deren Interessen eher im musischen Bereich lagen, nahm an diesem Unterricht nicht mehr durchgehend teil. Bis zum Alter von 16 lernte Florence die alten Sprachen, Chemie, Geographie, Geschichte, Philosophie, Physik, Mathematik, Französisch, Italienisch, Deutsch und Hebräisch.

Schon früh zeigte sich Florence interessiert an sozialen Fragen und begleitete ihre Mutter bei Krankenbesuchen in den Dörfern um Lea Hurst. Ihre ersten Erfahrungen in der Krankenpflege sammelte sie bei der Versorgung eines kleinen Cousins sowie weiterer erkrankter Familienglieder. Während einer Grippe-Epidemie im Januar 1837 konnte sich Nightingale der Pflege Grippekranker widmen und erfuhr in dieser Zeit ein religiöses Erweckungserlebnis. In ihrem Tagebuch hielt sie fest: „God spoke to me and called me to His service“ (Zitat bei Bostridge: 54). Auch später in ihrem Leben gab es immer wieder Momente, in denen sie diesen Ruf zu hören meinte.

Die Freiheit, dieser Berufung nachzuspüren und ihr zu antworten, hatte sie jedoch nicht, und litt schmerzhaft unter der Spannung zwischen der noch vagen, aber doch mächtigen Berufung und ihrem Dasein als höherer Tochter. Das Leben der Familie Nightingale, das aus langen Reisen, gesellschaftlichen Empfängen und Parties, dem vormittäglichen Silber-Polieren und den gemeinsamen Abenden im Salon bestand, empfand Florence Nightingale immer stärker als trivial und banal. Qualvoll erlebte sie die Inanspruchnahme ihrer Zeit durch die Familie und deren Gäste – eng begrenzt dagegen ihre Möglichkeiten, sich ihren brennenden Interessen wie der Mathematik und ihrem sozialen Engagement zu widmen.

Zugleich jedoch profitierte sie von den vielfältigen Kontakten ihrer Familie: wesentlichen Einfluss auf ihre spätere Tätigkeit hatten Zusammentreffen mit Menschen wie beispielsweise Sidney Herbert, dem späteren Staatssekretär des britischen Kriegsministeriums, der amerikanischen Ärztin Elizabeth Blackwell, dem amerikanischen sozialreformerisch orientierten Mediziner Samuel Howe und seiner Frau, mit Selina und Charles Bracebridge und dem preußischen Botschafter Christian von Bunsen. Letzterer, der in Rom und London die Gründung von Krankenhäusern initiiert hatte, machte sie mit dem Werk Theodor Fliedners in Kaiserswerth bekannt.

Im Sommer 1845 eröffnete Nightingale ihrer Familie ihren Wunsch, zunächst im Salisbury Hospital die Grundlagen der Krankenpflege zu erlernen und anschließend ein kleines Haus zur Pflege von Kranken zu erwerben. Mit ihr gemeinsam sollten dort Frauen ähnlicher Herkunft und Ausbildung in einer protestantischen Schwesternschaft leben – allerdings frei von irgendwelchen Gelübden – und in der Pflege tätig sein. Die Ablehnung dieses Plans von Seiten ihrer entsetzten Familie stürzte Nightingale in tiefe Depressionen und Zeiten suizidaler Anwandlungen.

Hintergrund der Haltung ihrer Eltern und ihrer Schwester waren nicht nur Nightingales angenommene zarte Konstitution, sondern auch der generell schlechte Ruf der Krankenhäuser und der Krankenwärter und Krankenwärterinnen – meist Menschen ohne jegliche Ausbildung, die anderweitig keine Möglichkeit zum Broterwerb finden konnten. Auch die zu dieser Zeit nach dem Vorbild der katholischen Pflegeorden neu gegründeten anglikanischen Schwesternschaften wurden eben wegen dieser Nähe zur katholischen Kirche von der britischen Gesellschaft abgelehnt. Die Reformerin Elizabeth Fry, die 1840 nach dem Vorbild Kaiserswerths ihre Institution of Nursing Sisters gründete, starb schon 1845 – möglicherweise hätte sie für Nightingale zu diesem Zeitpunkt eine wertvolle Verbündete werden können.

Stattdessen führte auch ein zweiter Versuch, die Erlaubnis der Eltern für ihre Pläne zu erlangen, zur Ablehnung. Das von Nightingale immer stärker verhasste “untätige” Leben musste sie also fortsetzen, beschäftigte sich jedoch heimlich mit Literatur über Krankenhäuser und Krankenpflege und nutzte auf weiteren Reisen jede Gelegenheit, Krankenhäuser zu besuchen. Die Reform der Arbeitsbedingungen und Qualifikation der Krankenpflegerinnen und -pfleger kristallisierte sich zunehmend als ihr Hauptinteresse heraus. Gespräche mit der Priorin des Konvents von Sacré-Coeur in Paris bestärkten sie darin, ihre Berufung ernst zu nehmen, während der Widerstand ihrer Familie sie immer wieder in tiefe Verzweiflung führte.

Der Wendepunkt in Nightingales Leben lässt sich auf der Rückreise von Ägypten im Frühjahr 1850 verorten. Ohne explizite Zustimmung der Eltern, mit Rückendeckung des Ehepaares Bracebridge, in deren Begleitung die gesamte Reise stattgefunden hatte, verbrachte sie zwei Wochen in der Kaiserswerther Diakonissenanstalt bei Caroline und Theodor Fliedner. Das, was sie dort erleben konnte, beeindruckte sie stark – und verwandelte ihre lähmende Depression in neue Entschlusskraft, ihren Weg gegen die Wünsche der Eltern durchzusetzen. Unkritische Schwärmerei findet sich in ihren Notizen und Briefen aus Kaiserswerth allerdings nicht, vielmehr ein nüchterner Blick auf die Merkmale der Institution, die sie für vorbildlich für England hielt. Das Hospital erschien ihr zwar ärmlich und hässlich und Fliedner selbst, dessen charismatischer Persönlichkeit sie den Erfolg der Institution zuschrieb, war ihr zu autokratisch. Doch die Freundlichkeit der Schwestern, die bereitwillig Einblick in ihre Tätigkeit gaben und ihre christliche Motivation, die die Krankenpflege zu einer Berufung und nicht nur zu einem Broterwerb werden ließ, erwähnt sie anerkennend. Lobenswert fand sie auch die wöchentliche Vorlesung, die Fliedner für die Schwestern abhielt, und die strikten Regeln, die ein schickliches Betragen der Schwestern sicherstellen sollten. Auf Fliedners Wunsch hin verfasste sie eine Schrift über Kaiserswerth, um die Institution in der englischsprachigen Welt bekannt zu machen. „The institution of Kaiserswerth on the Rhine“ ist Florence Nightingales erste Publikation.

Nach ihrer Rückkehr nach Hause wurde den Eltern allmählich bewusst, dass der seelische Zustand ihrer Tochter besorgniserregend war. Zudem hatte sich in den fünf Jahren, seit sie zum ersten Mal ihren Plan zur Einrichtung einer kleinen Institution vorgelegt hatte, etwas verändert. Verschiedene Pflegereforminitiativen begannen, die miserable Reputation der Krankenpflege und der Krankenhäuser allmählich zu verbessern. Dennoch wuchsen die Spannungen innerhalb der Familie Nightingale ins Extreme: Parthenope, die sich Florence fast pathologisch eng verbunden fühlte, reagierte mit gravierenden Krankheitssymptomen auf den bloßen Gedanken daran, dass ihre Schwester zur Verwirklichung ihrer Pläne das Elternhaus verlassen würde. Schließlich musste sich Florence dazu verpflichten, nicht mehr von ihrem Wunsch zu sprechen. Wieder stürzte sie in schwere depressive Verstimmungen und hegte Suizidgedanken. Am Ende des Jahres 1850 schrieb sie in ihr Tagebuch: „I have no desire now but to die“ (nach Bostridge: 151).

Schließlich wurde die für alle Beteiligten zunehmend unerträgliche Familiendynamik dadurch gelöst, dass der erkrankten Parthenope Nightingale eine Kur in Karlsbad verordnet wurde. Während sie und die Mutter die Kur absolvierten, konnte Florence – mit der Zustimmung der Eltern, aber unter größter Geheimhaltung vor der Großfamilie und den Bekannten – drei Monate in Kaiserswerth hospitieren. Wieder war das Eingebundensein in den diakonischen Alltag ungeheuer wohltuend und heilsam für sie. Während sie in dem für alle in Kaiserswerth Lernenden obligatorischen „Lebenslauf“ vom 24. Juli 1851 ihr bisheriges Dasein als „Wüstenwanderung“ beschrieben hatte („I had wandered about in the desert, seeking bread and finding none“,  siehe McDonald 2001: 93), konnte sie nun an ihre Mutter schreiben: „Really I should be sorry now to leave life!“ (zitiert bei Bostridge: 156). Am theoretischen Unterricht der Probeschwestern nahm Florence nicht teil, erwarb aber praktische, klinische Kenntnisse, die ihr bei ihrer späteren Tätigkeit zugute kamen: Wunden verbinden, Medizin vorbereiten und austeilen, Blutegel setzen, bei Operationen assistieren und Nachtwachen bei Sterbenden halten. Der Kaiserswerther Diakonissenanstalt blieb Florence Nightingale, von der Kaiserswerther Geschichtsschreibung als „berühmteste Besucherin Kaiserswerths“ verehrt, ihr Leben lang dankbar verbunden. Sie organisierte Spenden für die Institution, wurde Patentante eines der Fliedner-Söhne und betonte immer wieder den Wert des Kaiserswerther Geistes. In späteren Jahren jedoch äußerte sie sich jedoch zunehmend kritischer über die Organisation des Kaiserswerther Krankenhauses und lehnte die Behauptung ihrer Biographen, sie habe ihre Ausbildung in Kaiserswerth erhalten, scharf ab. Offenbar wollte sie ihre eigene Pflegereform vom Mythos Kaiserswerth nicht überschatten lassen.

Am Ende des Jahres 1852, nach sieben Jahren schwerer familiärer Konflikte, hatte Florence den Kampf um ihre Unabhängigkeit gewonnen: nach einer Studienreise nach Paris, wo sie mehrere Krankenhäuser besuchte und beim Orden der Vinzentinerinnen ihre praktische Ausbildung fortsetzte, nahm sie die Leitung eines kleinen Pflegeheims für „verarmte Frauen aus guter Familie“ an - ein Gehalt erhielt sie jedoch nicht, so wie bei keiner ihrer späteren Tätigkeiten. Ihr Lebensunterhalt blieb eine von Vater Nightingale bewilligte jährliche Unterhaltszahlung. Florence erwies sich als umsichtige, begabte Organisatorin, erkannte aber bald, dass sich ihr Traum, dort eine Ausbildungsstätte für Krankenpflege zu etablieren, nicht verwirklichen ließ. Nach einem Jahr reichte sie 1854 ihre Kündigung als Heimleiterin ein.

Obschon diese Phase der Heimleitung ein Intermezzo war und hinter ihren Erwartungen zurückblieb, ist sie dennoch ein Meilenstein in Florence Nightingales Leben: sie repräsentiert ihre Ablösung von den Beziehungen, die sie als einengend, freiheitsberaubend und ihrer Berufung widersprechend empfand, nämlich der Beziehungen zu ihrer Familie. Diese ersetzte sie durch frei gewählte Beziehungen zu Gleichgesinnten, bezeichnenderweise jedoch nicht durch eine Eheschließung, zu der es durchaus Gelegenheiten gegeben hätte. Über das System „Familie“, das den unverheirateten Töchtern die eigene, frei gestaltete Zeit raube, hat sich Nightingale zeitlebens scharf und bitter geäußert. Ihr Entkommen aus dem Elternhaus muss sie wie eine Befreiung aus Gefangenschaft empfunden haben, wie folgender Ausspruch erkennen lässt: „The prison which is called a family” (zitiert bei Bostridge: 373).

Wirkungsbereich

Ein weiterer Wendepunkt für Florence Nightingale wurde der 1853 ausgebrochene Krimkrieg. Bald erreichten die britische Öffentlichkeit Berichte über den grauenvollen Zustand in den Lazaretten der britischen Armee. Sidney Herbert, Staatssekretär des britischen Kriegsministeriums, lange schon mit Florence Nightingale gut bekannt, beauftragte sie mit der Mission, die Lazarettpflege zu reformieren. Im Oktober 1854 brach Florence mit einer Gruppe von knapp 40 Pflegerinnen, darunter katholischen Nonnen, anglikanischen Schwestern und zivilen Pflegekräfte, zum zentralen Militärkrankenhaus nach Scutari, dem heutigen Istanbuler Stadtteil Üsküdar, auf, wo sie katastrophale Zustände vorfanden: die verwundeten oder erkrankten Soldaten lagen in unbelüfteten, schmutzigen und ungezieferverseuchten Korridoren, die sanitären Einrichtungen waren unzureichend und es fehlte an allem Notwendigen wie Bettzeug, Kleidung, Besteck, Scheren und Verbandszeug. Obgleich Florence Nightingale in die Geschichte und vor allem in die Folklore einging als die Lady with the lamp (eine Formulierung des amerikanischen Dichters Henry Wadsworth Longfellow), die nachts mit ihrer Lampe durch die Krankensäle in Scutari ging, um den verletzten und sterbenden Soldaten liebevoll beizustehen, war ihre tatsächliche Leistung weniger die praktische Krankenpflege, als vielmehr die Organisation und Neukonzeption eines bis dato völlig unzureichenden Systems. Ihr gelang es, die Verwaltung der gesamten Krankenversorgung unter ihre Kontrolle zu bekommen, Fundraising in großem Stile zu betreiben, schwierige Machtkämpfe mit den Medizinern und konkurrierenden Schwestern auszufechten und letztlich ein funktionsfähiges Krankenhaus zu schaffen. Revolutionär neu war ihre Sicht auf die einfachen Soldaten, denen sie mit großer Menschlichkeit begegnete. Sie organisierte Gemeinschafts- und Leseräume, Vorträge, Konzerte und Theateraufführungen sowie ein System, mit dem die Soldaten einen Teil ihres Soldes an ihre Familien in England überweisen konnten. Vielen Angehörigen gefallener Soldaten schrieb sie eigenhändig Beileidsschreiben.

Florence Nightingale, so die Erinnerungen von Freunden und Familienangehörigen, die ebenfalls in Scutari zeitweise präsent waren, lebte in dieser Zeit weit über ihre Kräfte und überarbeitete sich systematisch. Auf Schlaf scheint sie oft verzichtet zu haben und äußerte sich dazu: “When I lie down, which I never do, I think of all the things to be done & they start me up again” (zitiert bei Bostridge: 283). Allein eine schwere Erkrankung und ein gesundheitlicher Zusammenbruch zwangen sie zwischenzeitig zur Unterbrechung ihrer Arbeit. Der Eindruck entsteht, dass sie die Jahre der erzwungenen Untätigkeit in England geradezu durch übermäßige Anstrengung kompensieren wollte. Während ihrer Abwesenheit erreichte sie in England eine Popularität, die Züge einer nationalen “Florence-Manie” annahm. Gedichte, Bilder, Lieder und Geschichten wurden publiziert und zementierten einen Mythos.

Im Juli 1856, vier Monate nach Abschluss des Friedensvertrages, kehrte Florence krank und erschöpft nach England zurück. Nach einer Erholungspause im Elternhaus zog Florence zurück nach London, wo sie bis an ihr Lebensende in einer Folge von Hotelräumen und angemieteten Häusern wohnte, zusammen mit Hausangestellten und mehreren Katzen.

In den nächsten Jahrzehnten absolvierte sie ein ungeheures Arbeitspensum, meist wegen ihrer Erkrankung im Bett oder auf dem Sofa liegend. Ihr Wirken kann als Lobbyarbeit für Gesundheitsreformen beschrieben werden, ihre Arbeitsweise als singulär: in intensiver Zusammenarbeit mit reformgesinnten Medizinern, Architekten und Politikern gelang es ihr, ihren Einfluss sozusagen hinter den Kulissen auszuüben, während die Männer den spezifischen „Nightingale-Bonus“ nutzten, um die Reformpläne zu Gesetzen werden zu lassen. So trug sie wesentlich zur Reform des britischen Sanitätswesens, zur Reform der Armenfürsorge und zu Reformen in Britisch-Indien bei. Ohne jemals in Indien gewesen zu sein, hatte sie sich zu einer anerkannten Indien-Expertin entwickelt. Am bekanntesten sind heute sicherlich Nightingales Konzeption einer Pflegeausbildung und ihre Schriften wie Notes on Nursing und Notes on Hospitals, nur zwei von insgesamt über 200 veröffentlichten Schriften und Büchern.

Florence Nightingale war in vielen Bereichen eine Pionierin: die erste Frau, die sich in einem militärischen System durchsetzen konnte, die erste Frau, die in die Royal Statistical Society berufen wurde und die erste weibliche Trägerin des Verdienstordens Order of Merit. Ihr Leben ist mit einem der umfangreichsten Nachlässe, die in der British Library aufbewahrt werden, eines der am besten dokumentierten des 19. Jahrhunderts. Doch obwohl sie sich den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit und ihrer Gesellschaftsschicht erfolgreich entzogen hatte, blieb ihre Haltung zur Frauenemanzipation ambivalent. Einerseits beklagte sie bitter den goldenen Käfig, in dem die Frauen der Oberschicht gefangen gehalten würden, andererseits stand sie beispielsweise den Versuchen, die medizinische Profession für Frauen zu öffnen, skeptisch gegenüber. Das Frauenwahlrecht befürwortete sie, hielt seine Bedeutung aber für weitaus geringer als die der Gesundheitsreform.

Reformatorische Impulse

Die öffentliche Wahrnehmung dieser in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Frau lässt – gerade in der schwärmerischen Verehrung, die ihr von Seiten der britischen Öffentlichkeit entgegengebracht wurde – das Bedürfnis erkennen, sie fassbarer und „ungefährlicher“ zu machen. Eine Frau, die den Kranken liebevoll beisteht, ließ sich als Erweiterung des Ideals des durch ein beliebtes Gedicht Coventry Patmores bekannten „häuslichen Engels“ verstehen. Florence Nightingale sei ebenfalls ein Engel, allerdings ein Angel of Mercy. Das Bild der Dame mit der Lampe wurde zu einer visuellen Metapher für das Ideal der christlichen Weiblichkeit; Prosa und Poesie über Nightingale nutzten die christliche Symbolkraft der Lampe als Licht der Welt. Die selbstbewusster werdende englische Mittelschicht propagierte Florence als Inbegriff der effizienten hausfraulichen Tugend im Gegensatz zur aristokratischen Missverwaltung des Krieges –  auch hier bleibt Nightingale der hausfraulichen Sphäre verhaftet.

Sie selbst hat sich öffentlich nie zu diesen Interpretationen geäußert. Ihrem Ruhm gegenüber war sie kritisch und fürchtete, dass er eher nachteilig für den Pflegeberuf sei, sein Ansehen gegenüber den Ärzten schmälere und zudem ungeeignete, nämlich ruhmsüchtige Bewerberinnen anlocke. Zugleich setzte sie ihre Popularität durchaus bewusst für ihre Ziele ein. Als Engel hätte sie sich aber sicherlich niemals selbst bezeichnet und ihr Wirken sprengt die idealisierten Bilder der christlichen Weiblichkeit. Zugleich spielte der christliche Glaube in ihrem Leben eine weitaus größere Rolle als normalerweise angenommen wird.

Denn hinter der nüchternen, faktenorientierte Statistikerin, der systematischen Organisatorin und der unermüdlich Arbeitenden, die von sich selbst und von ihren Mitarbeitern Höchstleistungen verlangte, gerät die spirituell Suchende leicht in den Hintergrund. Ihre eigene religiöse Prägung war vielschichtig. Von ihren Eltern, die nominell Glieder der anglikanischen Kirche waren, aber dem Unitarismus zuneigten, scheint Florence eine dogmenkritische, freie Interpretation des christlichen Glaubens übernommen zu haben. Elemente des unitaristischen Ethos wie der Glaube an sozialen Fortschritt und seine Orientierung am Gemeinwohl finden sich in ihrem Denken wieder. Bis an ihr Lebensende blieb sie Glied der anglikanischen Kirche, nahm aber schon als junge Frau nicht mehr an ihren Gottesdiensten teil und lehnte viele ihrer Lehrstücke wie vor allem die über die Hölle, die ewige Verdammnis und die Sühnetodvorstellung ab. Riten und religiöse Zeremonien hielt sie für sinnlos. Zugleich blieb für sie die Bibel eine (kritisch zu lesende) Quelle spiritueller Wahrheit. Inspiration fand sie auch bei so unterschiedlichen Strömungen wie der mittelalterlichen katholischen Mystik, der deutschen Schule der historisch-kritischen Exegese und der Lehre John Wesleys.

Gott, so verstand ihn Nightingale, sei eine wohlwollende, mächtige Intelligenz und seine Schöpfung ein harmonisches System. Ziel des Menschen müsse es sein, Gottes Gesetze in der Welt zu erkennen und zu befolgen, um mit Gott “kooperieren” zu können. Wissenschaft und Vernunft seien die Wege, durch die die göttlichen Gesetze in der Welt erkannt werden können. Das zu ihrer Zeit noch neue Feld der Statistik bot sich für Nightingale als besonders geeignet an, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und dann zur Reform von Missständen zu nutzen. Denn das Böse in der Welt sei Folge des Nichterkennens der göttlichen, universalen Gesetze; die Menschheit selbst werde auf dem Weg zu immer größerer Erkenntnis das Böse in Gutes verwandeln, wie sie schreibt: “There will be always evil, because there will be always ignorance. (...) Each advance has always brought evil with good, because each advance must, in some degree, be made upon an hypothesis. But mankind (...) will, more and more speedily, turn the evil into good” (F. Nightingale, Suggestions for Thought, 83).

In ihren Tagebüchern, Briefen und Notizen finden sich neben dieser eher nüchternen, rationalistischen Theologie aber auch Sätze, die von einer großen Sehnsucht nach einer Gottesbeziehung zeugen. Die Suche nach Einheit mit Gott teilte Nightingale mit den VertreterInnen der mittelalterlichen Mystik. Ziel war für sie jedoch nie eine mystisch motivierte kontemplative Ruhe, sondern immer die Aktion. Glaube, so Nightingale, sollte nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum, als treibende Kraft hinter all unserem Handeln, stehen. Insofern ist der religiöse Glaube auch das, was die Krankenpflege motiviert und sie von einer profanen Tätigkeit zu einer Berufung macht. Ihre eigenes Pflegeausbildungskonzept jedoch gestaltete Nightingale bewusst säkular-überkonfessionell. Dezidiert religiösen Pflegeorden gegenüber blieb sie immer kritisch und wies auf die Gefahr hin, dass kontemplative Elemente das Übergewicht über die eigentliche Pflege gewinnen könnten.

Welche Auswirkungen hat nun die Reformation auf das Leben und Wirken Florence Nightingales gehabt? Auf den ersten Blick wenige. Wesentliche Aspekte der lutherischen Theologie sind Nightingale fremd geblieben beziehungsweise lassen sich in ihrer Theologie nicht finden. Betrachtet man die Reformation jedoch nicht nur unter einer theologischen Perspektive, sondern als kulturgeschichtliches Phänomen, ergeben sich aufschlussreiche Verbindungen. Martin Luther als Mensch, der eine Perspektive einnehmen konnte, die nicht mehr von den existentiellen Gegebenheiten seines Lebens determiniert war, und der in Ablösung von seiner Familie, seiner Tradition, seinem Kloster und seiner Kirche gleichsam in ein Niemandsland aufbrach, kann als der Impuls betrachtet werden, der dreihundert Jahre später auch Florence Nightingale antrieb. Auch sie übernahm Rollen, für die es kein Rollenmodell gab. Traditionen als Wert an sich ließ sie nicht gelten, ob sie nun die praktische Organisation eines Krankenhauses, das Bewässerungssystem in Indien oder gesellschaftliche Normen betrafen. Keine Aufgabe, auch dies ein genuin lutherischer Gedanke, galt ihr als zu profan, um sie nicht als Mitarbeit an Gottes Wirken in der Welt zu betrachten.

Begreift man die Reformation als aufklärerische Bewegung lange vor der Aufklärung, lassen sich die reformatorischen Impulse, die von Nightingale selbst ausgegangen sind, gleichsam in Anlehnung an Kants Diktum „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ beschreiben: ihr Leben kann den nachfolgenden Generationen Ansporn sein, ebenfalls die Welt und die eigene Rolle darin nicht als determiniert zu akzeptieren, sondern der eigenen Berufung nachzuspüren und sie – auch gegen Widerstände – zu verwirklichen.

Kommentar

Ist es Zufall, dass Florence Nightingale sich mit all ihrer hohen Bildung und ihrem scharfen Verstand gerade zur Krankenpflege berufen fühlte? Der Legende nach habe sie schon als Kind die verletzte Pfote eines Hundes liebevoll und fachgerecht geschient, habe also schon früh den Drang zum Pflegen und Heilen verspürt.

Tatsächlich durchzieht das Motiv "Krankheit" Florence Nightingales gesamten Lebensweg. Zum einen pragmatisch als die zentrale Frage ihres Lebenswerkes: wie sieht eine Krankenpflege aus, die die Sterblichkeit senkt, indem sie präventiv zugunsten der Gesundheit wirkt? Wie müssen Krankenhäuser gestaltet werden, damit Gesundwerden möglich wird? Nightingales Ansatz war umfassend-ganzheitlich: um sicher zu stellen, dass die Natur sich selbst heilen kann, müssen die Lebensumstände der Menschen, ihr körperlicher und seelischer Zustand, ihre Ernährung und ihre Wohnverhältnisse mit einbezogen werden. Aufgabe der Schwester ist es, die Selbstheilung durch Ernährung, Hygiene, Licht und Luft zu befördern.

Zum anderen sah sie Krankheit als Metapher für das sinnentleerte Leben der Frauen der Oberschicht an, die nach einem langen, trivialen Tag einen Überschuss an nervöser Energie besäßen, der sie krank mache. Die häufigen psychosomatischen Beschwerden ihrer Schwester Parthenope waren für Florence Nightingale die natürliche Folge eines Lebensstils, der den Frauen keine geistige Nahrung und keine sinnvolle Aufgabe bot. Die Krankheit war, so zumindest bei Parthenope, die dadurch ihre Schwester zum Verbleib im Elternhaus nötigte, eines der wenigen Machtmittel, die ihr zur Verfügung standen.

Möglicherweise ist ihr großes, professionelles Interesse an der Krankenpflege auch dadurch bedingt gewesen, dass sie selbst Zeit ihres Lebens an Krankheiten litt. Ihre chronische Erkrankung, deren wahrscheinlichste Diagnose eine chronische Form der Brucellose ist, bewirkte nicht allein regelmäßig wiederkehrende Schwäche, sondern auch die absolute Freiheit vor unliebsamen Kontakten und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Paradoxerweise lässt sich Nightingales Arbeitspensum auch mit ihrem Status als “Invalidin” erklären. Insofern ließe sich behaupten, dass auch sie – ebenso wie ihre Schwester Parthenope – aus Krankheit einen Gewinn zog.

Warum sollten wir uns, abgesehen von ihrem unbestrittenen Platz in der Pflegegeschichte, an Florence Nightingale erinnern? Beeindruckend ist ihr Mut, mit dem sie gegen alle Widerstände, ohne angepassten Gehorsam und ohne Angst vor Konflikten ihren Weg gegangen ist. Für diesen Lebensweg konnte sie kein Rollenmodell nachahmen, denn es hätte keines gegeben, das ihrem Berufungsbewusstsein, ihrer Intelligenz und ihrer Stärke entsprochen hätte. Insofern kann sie auch jetzt noch Frauen dazu inspirieren, eigene Lebensentscheidungen anders und neu zu durchdenken. 

Zum Weiterlesen

M. Bostridge: Florence Nightingale. The Woman and her Legend, London 2009 (erstmalig publiziert: 2008).

M. D. Calabria/J. A. Macrae (Hrsg.): Suggestions for Thought by Florence Nightingale. Selections and Commentaries, Philadelphia 1994.

L. McDonald (Hrsg.): Florence Nightingale. An Introduction to her Life and Family. Collected Works of Florence Nightingale, Bd. 1, Waterloo (Ont.) 2001.

L. McDonald (Hrsg.): Nightingale’s Theology. Essays, Letters and Journal Notes. Collected Works of Florence Nightingale, Bd. 3, Waterloo (Ont.) 2002.

A. Sticker: Florence Nightingale und Kaiserswerth. in: Kaiserswerther Diakonie (Hrsg.), Florence Nightingale: Kaiserswerth und die Britische Legende, Kaiserswerth 2001, 18-29.